Studie: Millionen Kinder sind Opfer von sexueller Gewalt
Veröffentlicht: Montag, 02.06.2025 14:46

Gesellschaft
Berlin (dpa) - Jede fünfte Frau in Deutschland ist im Kindes- und Jugendalter Opfer von sexualisierter Gewalt geworden. Insgesamt haben einer neuen Studie zufolge 12,7 Prozent der 18- bis 59-Jährigen solche Taten als Minderjährige bereits erlebt - das sind 5,7 Millionen Menschen. Bei den Frauen liegt die Betroffenenrate bei 20,6, bei den Männern bei 4,8 Prozent. Das Ausmaß solcher Taten in Deutschland sei «erschreckend groß», sagte der Mannheimer Psychiater und Studienkoordinator Harald Dreßing.
Erstmals zeigt die großangelegte Erhebung unter Mitarbeit mehrerer Forschungseinrichtungen das Ausmaß der Taten und deren Verteilung auf einschlägige Tatorte auch jenseits der katholischen und evangelischen Kirche. Dort war in den vergangenen Jahren immer mehr Missbrauch bekanntgeworden. Die neue, federführend am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim entstandene Studie, deckt «ein erhebliches Dunkelfeld» solcher Taten insgesamt auf.
Oft dauert der Missbrauch Jahre
11,2 Jahre - so alt waren die Betroffenen im Schnitt zum Zeitpunkt der ersten Tat. Dabei erlebte rund jede und jeder zweite Betroffene sexualisierte Gewalt nicht nur einmal. Mehrfach zum Opfer wurden vor allem jene, an denen so eine Tat schon in besonders jungen Jahren zum ersten Mal verübt worden war. Bei den von Mehrfachtaten betroffenen Personen dauerte der Missbrauch durchschnittlich 3,4 Jahre.
«Sehr unterschiedliche Tatbereiche»
Dreßing, der durch die Erforschung verbreiteten sexuellen Missbrauchs in der katholischen und evangelischen Kirche bekannt ist, berichtete von insgesamt «sehr unterschiedliche Tatbereichen» in der deutschen Gesellschaft. Mit 27,4 Prozent berichten junge Frauen zwischen 18 und 29 Jahren besonders oft davon, sexuelle Übergriffe erlebt zu haben. Mädchen seien dabei häufiger im Familien- und Freundeskreis betroffen - mit rund einem Drittel insgesamt der häufigste Tatkontext.
Im Schnitt sind Mädchen zum Zeitpunkt der Taten laut Dreßing etwas älter und Jungen etwas jünger. Jungen erleben sexualisierte Gewalt demnach häufiger in Sport- und Freizeiteinrichtungen, im kirchlichen Kontext und im Rahmen der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe. «Überall dort, wo Kinder und Eltern eigentlich einen Schutzraum für Kinder erwarten dürfen, passieren Sexualdelikte», stellte Dreßing fest.
Ungewollter Kontakt mit Pornografie
Über das Internet und soziale Medien haben nach eigenen Angaben bereits fast 32 Prozent sexualisierte Gewalt erlebt. Hier berichteten Betroffene am häufigsten über ungewollte Kontakte mit pornografischem Material (18 Prozent) sowie über ungewollte Fragen nach sexuellen Informationen und ungewollten Gesprächen sexuellen Inhalts (jeweils rund 10 Prozent).
Penetration in fast jedem vierten Fall
«Die Tathandlungen sind gravierend», stellen die Forscherinnen und Forscher fest. Ihre Befragung ergab, dass in mehr als 95 Prozent der Fälle Berührungen stattfanden - in 23,7 Prozent der Fälle sogar eine Penetration. 95 Prozent der Täter sind laut der Studie männlich.
Insgesamt haben die Forscherinnen und Forscher nach allen Taten gegenüber Unter-14-Jährigen gefragt sowie nach Taten gegenüber Unter-18-Jährigen gegen deren Willen. Gefragt wurde etwa nach sexueller Belästigung oder Nötigung, aber auch nach Annähern im Internet für spätere sexuelle Übergriffe.
Schweigen aus Scham
Dreßing sagte: «Wenn ein Kind Opfer sexualisierter Gewalt wird, dann ist das ein schweres Trauma. Es kann ein Leben zerstören.» Laut der Studie schweigen viele Opfer - aus Scham- und Schuldgefühlen sowie aus Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird, wie der Psychiater erläutert. Mehr als 37 Prozent der Betroffenen berichteten gegenüber den Mannheimer Forschenden zum ersten Mal über die erlittenen Taten. 56 Prozent hatten bereits jemand anderem davon erzählt. Strafanzeige hatten 7 Prozent erstattet. 14 Prozent gaben an, sich wegen sexualisierter Gewalt bereits in psychotherapeutischer Behandlung befunden zu haben.
Um die Zahlen zu senken, forderte Dreßing weitere Forschung, so dass in Einrichtungen und Heimen speziell abgestimmte Schutzkonzepte erstellt werden könnten. Für die vielen Fälle von Taten im Familienkreis drang der Forscher auf wachsende Sensibilisierung und Aufklärung. Wichtig sei, dass Informationen über Hilfsangebote eine stärkere Verbreitung erführen.